· 

"Drehbuch" einer Bundesratswahl: Der "Klassiker" von 1983

Für den Band "Heil Dir Helvetia - Die Freude an der Macht" hat der Journalist Christian Fehr einst detailliert recherchiert, wie am 7. Dezember 1983 die Wahl der ersten Bundesrätin verhindert worden ist. Seine Darstellung ist zum "Drehbuch-Klassiker" für das beliebte Ränkespiel im Vorfeld von Bundesratswahlen geworden.

 Am Mittwoch, 8. Dezember 1982, werden von der Vereinigten Bundesversammlung je im ersten Wahlgang FDP-Nationalrat Rudolf Friedrich und CVP-Ständerat Alphons Egli gewählt. Die Sozialdemokraten mochten sich weder für den einen noch den anderen Kandidaten richtig erwärmen: Sie haben Stimmfreigabe erklärt. Allerdings lässt SP-Parteipräsident Helmut Hubacher im Vorfeld der Friedrich-Wahl durchblicken, dass ihm der FDP-Rechtsaussen Friedrich genehmer wäre als jeder andere FDPler. Er gibt einem unverfälschten gegenüber einem verwaschenen FDP-Exponenten den Vorzug.

 

Dieses Engagement des SP-Chefs für den rechten Friedrich bleibt den meisten Sozialdemokraten schleierhaft, manche mucksen gegen solche Wahlempfehlung des SP-Vormannes auf. Bis zum Wahltermin rückt Nationalrat Hubacher sein Friedrich-Bild für den SP-Anhang wieder in ein richtiges Licht. Er nennt ihn einen «finsteren Gesellen». Was Helmut Hubacher zuvor mit seiner Friedrich-Salbung tatsächlich bezweckt hat, bleibt verschwommen. Manche SPler hegen den Verdacht, Hubacher träume insgeheim noch immer davon, selber den obersten Spross des politischen Machtzentrums erklimmen zu können – frei nach dem Motto: «Wenn der extreme Friedrich genehm sein kann, dürfte es auch für einen SP-Präsidenten möglich werden.»

 

Kurz nach der Friedrich- und Egli-Wahl erklärt Helmut Hubacher der «Basler Zeitung», was sie anderntags publiziert: «Jetzt wird’s allerhöchste Zeit für eine Frau.» Sobald der eine oder andere SP-Sitz im Bundesrat frei werde, wolle die sozialdemokratische Fraktion den Versuch zu einer historischen Tat wagen und die erste Bundesratskandidatin zur Wahl vorschlagen. Der Name der Hubacher-Favoritin ist für niemanden ein Geheimnis: SP-Nationalrätin Lilian Uchtenhagen. Hubacher-Gegner unterstellen gleich, der SP-Chef habe seit Jahren das Terrain für seine Lieblingskandidatin geebnet, indem er der Reihe nach die ernsthaftesten Anwärterinnen - Hedi Lang und Emilie Lieberherr - ausgebootet hätte. Die gleichen Hubacher-Gegner unterstellen dem SP-Leader freilich auch, er sei eine «taktische Null».

 

Frühjahr 1983, Restaurant «Pinocchio», Bern, abends: Bei Speis’ und Trank plaudern drei Mitglieder der sogenannten «Viererbande», nämlich die Nationalräte Andreas Gerwig, Helmut Hubacher und Walter Renschler, zwanglos über mögliche Nachfolger von Bundesrat Willi Ritschard, dessen intern geäusserte Rücktrittsabsichten sich gehäuft hätten. Das Trio erstellt eine Liste «valabler Kandidaten». Man kommt auf ein gutes Dutzend Namen, worunter alle Angehörigen der «Viererbande». Doch bei näherem Betrachten zeigen sich Gerwig, Hubacher und Renschler realpolitisch: «Von uns hat keiner eine Chance.» Zuletzt bleibt der Name von Nationalrätin Lilian Uchtenhagen, dem vierten Mitglied der «Viererbande».

 

Und noch etwas scheint dem Trio klar: Wenn Ritschard schon gehen wolle, dann müsse seine Nachfolgerin vor den eidgenössischen Wahlen von der Vereinigten Bundesversammlung gekürt werden können. Denn die Bürgerlichen würden es sich vor den Wahlen kaum leisten können, einer Frau vor dem Glück zu stehen. Indes, nach einer Ferienwoche, in deren Verlauf er vertieft über einen Rücktritt nachgedacht hatte, zeigt sich Willi Ritschard zunächst nicht mehr rücktrittswillig. Dann, vor den Sommerferien 1983, erklärt Bundesrat Ritschard, er werde nach den Ferien und nach Konsultation seines Leibarztes bekannt geben, ob er demissioniere oder nicht. Im August diskutieren die Zentralsekretäre der SP zusammen mit dem Parteipräsidenten die allfällige Ritschard-Nachfolge: Ein Zentralsekretär bringt den Namen von Nationalrat Hans Schmid ins Spiel, Helmut Hubacher spricht sich für Nationalrätin Lilian Uchtenhagen aus.

 

1. September 1983, im gewerkschaftseigenen Viersterne-Hotel «Bern», Bern: Das «Willi Ritschard»-Buch wird vorgestellt, das zu Ritschards 65. Geburtstag unter dem Patronat der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz und dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund von der Büchergilde herausgegeben worden ist (Konzeption und Text: Christian Fehr, ergänzt durch ein Ritschard-Porträt der Schriftstellers und Ritschard-Freundes Peter Bichsel). An der Buch-Vernissage nehmen zahlreiche Prominente von SP und Gewerkschaften teil – und verschiedene Medienvertreter, die sich vom Anlass vorab Neuigkeiten über die Rücktrittsabsichten des Geehrten versprechen. Doch Willi Ritschard lässt offen, ob er seinen zehn Bundesratsjahren noch ein elftes anhängen wolle. Anwesend ist auch Nationalrätin Lilian Uchtenhagen, die später auf dem Perron des Bahnhofs Bern gegenüber dem Parteipräsidenten bezweifelt, ob Ritschard tatsächlich bereits zurücktreten wolle.

 

3. Oktober 1983, Herbstsession: Bundesrat Willi Ritschard reicht sein Demissionsschreiben ein. Das Kandidatenkarussell, das sich schon seit einiger Zeit dreht, kommt richtig in Fahrt.

 

Am 16. Oktober stirbt der populäre SP-Bundesrat auf einer Jura-Wanderung. In der Solothurner St.-Ursen-Kathedrale spricht SP-Präsident Helmut Hubacher vom «Vermächtnis» Ritschards: Willi Ritschard habe sich zuletzt Frau Uchtenhagen als seine Nachfolgerin gewünscht. Dieser vom SP-Chef erwähnte «letzte Wille» des Verstorbenen verfehlt seine Wirkung nicht: Die Ritschard-Entourage wird in den folgenden Tagen von zweifelnden und überraschten SP-Parlamentariern selbst nächtlicherweile bemüht, darüber Auskunft zu geben, ob die Sache mit dem «Vermächtnis» tatsächlich zutreffe. Wird der «letzte Wille» nicht bestätigt - etwa von Anhängern des Möchtegern-Kandidaten Hans Schmid, die es in der Ritschard-Entourage auch gibt -, atmen manche Frager erleichtert auf. So etwa ein welscher Nationalrat, der sich nochmals vergewissert: «Alors, on est libre?»

 

Vor der Tür stehen die Gesamterneuerungswahlen für National- und Ständerat. Im Kanton Solothurn gilt als fast sicher, dass der Grenchner Stadtpräsident und SP-Nationalrat Eduard Rothen nicht mehr kandidieren wird. Eine Mehrheit in der solothurnischen SP-Geschäftsleitung würde es gern sehen, wenn auch der andere bisherige SP-Nationalrat, nämlich Coop Schweiz-Vizedirektor Otto Stich, seinen Platz ebenfalls jüngeren Kräften zur Verfügung stellen würde. Doch fürchten die Genossen, dass Stich in Kenntnis der definitiven Demission Rothens nicht rücktrittswillig sein könnte. Man argwöhnt, dass Stich argumentieren könnte, die solothurnische SP-Liste müsse wenigstens einen Namen enthalten, der mit dem Wörtchen «bisher» ergänzt werden kann. Rothen wird deshalb mit seiner Demissionsabsicht solange zurückgehalten, bis Otto Stich das Handtuch geworfen hat.

 

Manchen Genossen ist nach der Stich-Ausbootung nicht wohl ums Herz und der Ausgebootete erfährt nach Bekanntgabe des Ritschard-Rücktritts eine Art Wiedergutmachung: Hauchdünn, mit 7 gegen 6 Stimmen, wird Otto Stich von der solothurnischen SP-Geschäftsleitung als Bundesratskandidat vorgeschlagen. Zwar denkt keiner, dass auf den Solothurner Ritschard schon wieder ein Solothurner als Bundesrat folgen würde, aber dem Genossen Stich soll mit dieser Nominierung etwas Gerechtigkeit für seine Verdienste widerfahren. In den linken Solothurner Beizen heisst es nach dieser SP-Geschäftsleitungssitzung, dass verschiedene Mitglieder bloss für Stich gestimmt hätten, weil sie seit dessen Ausbootung ein schlechtes Gewissen mit sich herumtragen.

 

Anfang Oktober 1983, Professor Hans Schmid nimmt an der Handelshochschule St. Gallen mündlichen Prüfungen ab. Einer der letzten Studenten bemerkt: «Viel Glück, Herr Professor, es ist da ja etwas im Tun…» Er verweist auf einen Artikel in der «NZZ», worin SP-Nationalrat Hans Schmid von allen möglichen SP-Kandidaten am sympathischsten abschneidet. Zwar ist der Name des St. Galler Professors schon früher gefallen, doch jetzt, da ihn die «NZZ» so wohlwollend behandelt, rechnet Schmid ernsthaft mit einer Wahlchance. Gleichsam «familienintern» - von einem Jus-Professor, der Götti eines Schmid-Kindes ist - klärt Hans Schmid die leidige Bürgerrechtsfrage ab. Denn Schmid ist St. Galler und Aargauer, wählbar aber nur als Aargauer. Er will aber auf das St. Galler Bürgerrecht nicht im Voraus verzichten, sondern erst nach einer allfälligen Wahl in den Bundesrat. Der befreundete Jurist gibt ihm bei einem Glas Wein zu verstehen, dass ein solches Vorgehen mit guten Gründen möglich sein sollte. Freilich könne man einwenden, dass er vor der Wahl auf sein St. Galler Bürgerrecht verzichten müsse.

 

In der letzten Woche der September-Session des alten Parlamentes hat Hans Schmid gehört, dass er als Kandidat gehandelt wird. CVP-Nationalrat Hans Schärli hat ihm in der Wandelhalle erklärt: «Ich habe Egli zum Bundesrat gemacht und garantiere Dir bei einer Kandidatur 125 Stimmen.» Schmid, der Schärli scherzhaft als «Präsident der bürgerlichen Hinterbänkler-Vereinigung» einstuft, denkt sich: «Wenn der sogar Egli zum Bundesrat machen konnte, dann…» Er wirft den Zettel mit der Telefonnummer, den ihm Schärli gibt, damit er seine Entscheidung mitteilen kann, nach eigener Darstellung in den nächsten Papierkorb. Schmid wittert eine Falle. Später, nach der Nominierung durch die St. Galler SP, aber vor der Fraktionsausmarchung der SP, ruft er Hans Schärli trotzdem an: «Ich habe nichts dagegen, wenn ihr die Aktion macht, die ihr mir offeriert habt.»

 

In einem ersten Gutachten, das das Bundesamt für Justiz im Fall «Bürgerrecht Schmid» erstellt, wird dem St. Galler Professor die Möglichkeit eingeräumt, erst nach der Wahl zum Bundesrat auf sein St. Galler Bürgerrecht verzichten zu können. Schmid wird parteiintern vor allem von jungen SPlern, die verschiedentlich mit der Etikette «Jung-Manager» versehen werden, gestützt und animiert, aber auch von verschiedenen Gewerkschaftern. Hingegen wird ihm, der während den Sessionen im Hotel «Bern» übernachtet, dem einstigen «Volkshaus», in der letzten Sessionswoche seitens der sogenannten «Volkshüsler-Riege» der sozialdemokratischen Parlamentarier durch SP-Nationalrat Herbert Zehnder bedeutet, sie würden sich für Otto Stich einsetzen - einer der ihren, der als Nationalrat ebenfalls im Hotel «Bern» abstieg, abends gern einen Jass klopfte und im Gegensatz zu Schmid klar dem konservativen Parteiflügel zugerechnet werden kann.

 

Am letzten Sessionstag des alten Parlamentes werden die - wie Stich - nicht mehr kandidierenden Kollegen gebührend verabschiedet. Die CVP-Nationalräte Edgar Oehler und Hans-Rudolf Feigenwinter erklären dem scheidenden Otto Stich rührsehlig: «Otti, wir werden dich nicht vergessen.» Stich antwortet etwas verlegen: «Wir werden ja sehen.»

 

Von ihrem Kandidatenvorschlagsrecht machen verschiedene SP-Kantonalparteien Gebrauch, wenngleich vom Start weg über jedem männlichen Bewerber gleichsam Lilian Uchtenhagen als Damoklesschwert hängt. Vorgeschlagen werden: Ständerat Eduard Belser (BL), Regierungsrat und Nationalrat Kurt Meyer (BE), Nationalrat Hans Schmid (SG), Noch-Nationalrat Otto Stich (SO), Nationalrätin Lilian Uchtenhagen sowie Regierungsrat und Ex-Nationalrat Arthur Schmid (AG), ein früherer Präsident der SP Schweiz. In Zürich wird ursprünglich erwogen, allenfalls eine Zweier-Kandidatur - Lilian Uchtenhagen und Walter Renschler (mit Walliser Bürgerrecht) - vorzulegen. Diese Idee weist Frau Uchtenhagen entschieden zurück; sie will von ihren Leuten vorbehaltlos unterstützt werden.

 

Im Kanton Bern, wo in der internen SP-Ausmarchung der seit Jahren als möglicher Bundesratskandidat genannte Thuner Stadtpräsident und Nationalrat Ernst Eggenberg gegen Regierungsrat und Nationalrat Kurt Meyer mit einer Stimme Differenz unterliegt, zeichnet sich Peinliches ab. Für Meyer haben sich hier besonders Anhänger des St. Gallers Schmid in Szene gesetzt, die Eggenberg als überaus erfolgsträchtige Nummer weg vom Fenster haben wollen. Dies ahnt der nominierte Meyer freilich erst, als im schweizerischen Parteivorstand, dem neun Berner angehören, die Wahlergebnisse für die einzelnen sozialdemokratischen Bundesratskandidaten bekanntgegeben werden: Auf Meyer entfällt lediglich eine Stimme, was den bernischen SP-Kantonalpräsidenten, Richard Müller, veranlasst, in der «Berner Tagwacht», der er als Chefredaktor vorsteht, darauf hinzuweisen, dass jedenfalls der Kantonalpräsident für den bernischen Kronprinzen gestimmt habe…

 

Ende Oktober verlieren die Sozialdemokraten die eidgenössischen Wahlen. Die als Nationalrat oder Ständerat wieder kandidierenden SP-Bundesratsbewerber werden aber durchs Band brillant wieder gewählt, am besten SP-Bundesratskronprinzessin Lilian Uchtenhagen. Nationalrätin Uchtenhagen setzt sich am 12. November 1983 in allen SP-Wahlgremien durch, die final entscheidende SP-Fraktion ernennt sie zur offiziellen sozialdemokratischen Bundesratskandidatin: Sie macht hier 31, der härteste Konkurrent, Hans Schmid, 22 Stimmen. Auf Otto Stich entfallen 8 Stimmen.

 

Im Vorfeld dieser Nominierung und auch nachher werden zwei Uchtenhagen-Kampagnen deutlich: Die Pro-Kampagne wird von den Blättern der Ringier-Presse («Blick», «Sonntagsblick», «Schweizer Illustrierte») geführt und hier vom prominenten Journalisten Frank A. Meyer wesentlich geprägt. Die Kontra-Kampagne lässt sich weniger genau orten, die Kandidatin selber wähnt sich aber besonders mit der Jean-Frey-Verlagsgruppe im Clinch («Weltwoche», «bilanz»). Der angesehene Publizist Oskar Reck bezeichnet die Anti-Uchtenhagen-Kampagne als «verdeckten Rufmord».

 

Lilian Uchtenhagen selber nimmt in der «Berner Zeitung» in einem Interview unter dem Titel «Bei Stress lebe ich erst auf!» zur Kritik an ihrer Person und zu Willi Ritschards Wunsch Stellung: «Bereits vor zwei Jahren rief der verstorbene Bundesrat Willi Ritschard mich zu sich, um mir zu sagen, er wolle gelegentlich zurücktreten und ich solle seine Nachfolge antreten. Nachdem Willi Ritschard mir mehrmals gesagt hatte, ich müsse unbedingt kommen, ich sei qualifiziert, habe ich mir nach seinem Rücktritt überlegt, ob ich mir eine Bedenkzeit ausbedingen soll. Aber bei den Wahlen habe ich gemerkt, dass sehr viele Leute, Frauen und Männer, jetzt unbedingt eine Frau im Bundesrat haben wollen. Da wurde mir in unzähligen Gesprächen auch klar, dass ich das jetzt einfach machen muss. Irgendeinmal kommt der Zeitpunkt, da wir Frauen das auf uns nehmen und in einen solchen Konkurrenzkampf steigen müssen. Meine Partei ist überzeugt, dass ich die Qualifikation habe. Abgesehen davon ist es wirklich Zeit, dass eine Frau in diese Regierung einzieht.

 

Das Schlimme an dieser Kampagne gegen mich ist ja, dass niemand nach meiner parlamentarischen Arbeit fragt. Dabei habe ich mich nicht nur in Wirtschafts- und Finanzfragen profiliert, sondern mich auch in Frauenfragen, Bildungs- und Forschungsfragen engagiert und für regionalen Ausgleich und Minderheiten gestritten. Aber ich werde immer entweder als eiserne Lady oder als emotioneller Haufen geschildert. Wie ich einerseits ehrgeizig, kalt, hart und rücksichtslos, anderseits eine Heulsuse sein soll, das geht ja auch nicht auf. Die Leute, die mit mir schon zusammengearbeitet haben, wissen sehr wohl, dass ich sehr belastbar bin.»

 

Die Uchtenhagen-Kritiker haben unter dem Stichwort «Belastbarkeit» der Kandidatin zum Beispiel gestreut, Frau Uchtenhagen werfe mit Aschenbechern um sich, wenn sie aufs äusserste gefordert werde. In der «Weltwoche» wird die angeblich mangelnde «psychische Belastbarkeit» der Kandidatin solcherart dargestellt: «Kritik reisst die Präsidentin von Coop Zürich vom Stuhl, lässt sie unkontrolliert herumzappeln – ihr gehen immer wieder die Nerven durch. Als sie einst während der China-Fahrt einer parlamentarischen Delegation mongolischen Kindern gedankenlos Dollarnoten verteilt hatte und deswegen von Parteifreund Walter Renschler scharf gerüffelt wurde, stand sie schliesslich, das personifizierte Elend, tränenüberströmt in der Steppe.»

 

Sehr früh zirkulierten in den Wandelhallen des Bundeshauses, aber auch in den Gazetten, zwei Namen, die in keiner Form als Kandidaten an der SP-internen Ausmarchung teilgenommen haben: Nationalrat Fritz Reimann, hauptberuflich Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB), und Bundeskanzler Walter Buser. Am 19. November 1983 sorgt ein «Tages-Anzeiger»-Interview mit SP-Präsident Helmut Hubacher für Empörung in den bürgerlichen Reihen. Der SP-Chef gibt darin zu verstehen, dass die SP einen Bundesrat Buser nicht schlucken würde. Die Bürgerlichen wähnen sich durch diese Aussage erpresst.

 

Buser selber nimmt «erste Äusserungen im Sinne einer Ermunterung zur Annahme einer Wahl» in der September-Session 1983 wahr. Häufiger seien sie nach den Fraktionssitzungen vor der Winter-Session geworden, «als sich in allen bürgerlichen Fraktionen eine relativ starke Opposition gegen die Kandidatur Uchtenhagen herauskristallisierte»: «All diese Äusserungen - vielleicht ein gutes Dutzend - kamen aber von persönlichen Freunden und hatten nicht einmal offiziösen, geschweige denn offiziellen Charakter.» Als solche Freunde erwähnt Buser den Neuenburger Nationalrat François Jeanneret (lib.), den Buser-Schachpartner und Neuenburger Ständerat Jean-François Aubert (lib.), den Genfer Nationalrat Gilbert Couteau (lib.) und den Zürcher CVP-Nationalrat Paul Eisenring (der mit Buser zu einer Gruppe von befreundeten Parlamentariern gehört, die sich einmal pro Session zum Nachtessen treffen). Buser: «Daher kommt das Gerücht, die Bürgerlichen hätten mich gleich zu Beginn gewollt. Klar haben die – es sind ja Freunde – für mich die Werbetrommel gerührt.»

 

Im «Landwirtschaftlichen Klub der Bundesversammlung», dem weit über 100 Parlamentarier fast aller Parteien angehören, bearbeiten katholische Bauern protestantische Kollegen zugunsten des Katholiken und Coop Schweiz-Mannes Otto Stich, dem die Bauern grundsätzlich nicht wohl gesinnt sind. Ein katholischer Bauern-Nationalrat erhält von einem protestantischen Kollegen die schnippische Antwort: «Dann können wir ja gleich den Biel wählen!» Walter Biel ist Nationalrat des Landesrings der Unabhängigen und Migros-Direktor. Mit seinen kritischen Voten zur Landwirtschaftspolitik bringt er die Bauern regelmässig gegen sich auf.

 

Fritz Reimann wird zehn Tage vor der Bundesratswahl, an einem Samstag, zuhause von einem Thuner Freisinnigen - Reimann wohnt in Thun – aufgesucht, der ihm im Hinblick auf die bevorstehende Bundesratswahl eröffnet: «Wir haben mit dem Wahlvorschlag Mühe…» Reimann, der «da und dort» bereits seit Wochen gehört hat, «dass sie mich wollen», winkt ab, wenngleich ihm der freisinnige Kollege zu verstehen gibt, er könne sich mit einer Antwort ruhig Zeit lassen.

 

Doch der SGB-Präsident, der sich mit einer Wahl zum Bundesrat persönlich «nicht unglücklich» machen will, lehnt unzweideutig ab. Da entgegnet ihm der freisinnige Kundschafter: «Das wäre ja das erste Mal, dass einer die Wahl nicht annehmen würde!» Auch dies vermag den umgarnten Fritz Reimann nicht umzustimmen, trotzig meint er: «Dann bin ich halt der Erste!» Tatsächlich hatten in der Vergangenheit bei den Sozialdemokraten sowohl Hans-Peter Tschudi (gegen den Schaffhauser Nationalrat und Stadtpräsidenten Walther Bringolf) und Willi Ritschard (gegen den Aargauer Regierungsrat und Nationalrat Arthur Schmid) die mithin «wilde», von den Bürgerlichen in Abweichung zum offiziellen SP-Kandidaten vorgenommene Wahl angenommen.

 

Am Donnerstag, 1. Dezember 1983, bitten die Nationalräte Franz Eng (FDP) und Hans Schärli (CVP) den begehrten Gewerkschaftsboss Reimann zum vertraulichen Gespräch in eine Ecke des Nationalratssaals. Die beiden bürgerlichen Parlamentarier geben ihm aufgrund von Gesprächen in ihren Fraktionen zu verstehen: «Du wirst problemlos gewählt, aber wir müssen sicher sein, dass Du die Wahl annimmst.» Und wieder zeigt man sich bereit, dem SGB-Präsidenten Bedenkzeit einzuräumen: «Du musst jetzt nicht sofort ja sagen, überlegs’s Dir übers Wochenende.» Reimann hat nach diesem Gespräch kaum wieder seinen Platz eingenommen, da wird er von einem Nationalratsweibel aufgefordert, dringend den Bundeskanzler anzurufen. Buser später dazu: «Die Entwicklung - so wie ich sie verfolgen konnte - zeigte zu Beginn eine klare Konzentration der Gegner der Kandidatur Uchtenhagen auf Nationalrat Schmid, St. Gallen. Es bestand Neigung, die SP insofern zu schonen, als der Zweitklassierte bei der fraktionsinternen Ausscheidung ins Auge gefasst wurde. Erst als die Kandidatur aus rechtlichen Gründen zu wanken begann, suchten die Gegner der Kandidatur Uchtenhagen intensiver nach einer möglichen Alternative. In jenem Moment kam nun die Kandidatur Fritz Reimann ins Gespräch, der am Donnerstag der ersten Sessionswoche von einer interfraktionellen bürgerlichen Delegation aufgesucht wurde. Mir persönlich kam diese Alternative recht, da damit die Gefahr einer Konzentration auf meine Person abgewendet war.»

 

Reimann und Buser verabreden sich zum Mittagessen im Restaurant «Krone» im Berner Nobelvorort Muri. Noch bevor das bestellte Fisch-Gericht an einer weissen Sauce aufgetragen ist, platzt es aus Buser heraus: «Fritz, ich sichere Dir jegliche Unterstützung zu.» Welches Departement auch immer Fritz Reimann im Bundesrat übernehmen müsse, überall gebe es vorzügliche Beamte, die dem bescheidenen, auch an seiner Qualifikation für das hohe Amt zweifelnden Reimann beistehen könnten: «Du brauchst keinerlei Bedenken zu haben.»

 

Reimann winkt wieder ab, doch Buser will’s nicht wahrhaben. Am folgenden Freitag hat der Bundeskanzler in Basel an der Universität Examina abzunehmen und benützt die Gelegenheit, mit seinem alten Freund Hans-Peter Tschudi, dem früheren SP-Bundesrat, ein Gespräch zu führen. Tschudi, den Buser als seinen Berater empfindet, hat dem Bundeskanzler zuerst von einer Kandidatur abgeraten, später jedoch, an Tschudis Geburtstagsfeier, schlitzohrig empfohlen, seine, Tschudis 1959er Erfahrung, zu studieren: «Die könnte Dir jetzt dienlich sein.» Buser will darauf geantwortet haben: «Comparaison ce n’est pas raison.»

 

Nach dem Gespräch mit Freund Tschudi ruft Buser via Autofunk den Parteipräsidenten Hubacher an. Sie verabreden sich im «Maxim» in Basel, das Hubachers Gattin führt. Buser über den Gesprächszweck: «Es ging mir nicht darum, ihn um Rat zu fragen, wie später in den Medien gesagt worden ist, sondern darum, einen Appell an ihn zu richten, die Tatsache der ungünstigen Chancen der Kandidatur Uchtenhagen zu realisieren und, wenn es doch offenbar sein musste, von sich aus eine Alternative in die Diskussion zu bringen. Im gleichen Sinne hatte ich mich am Donnerstag der ersten Woche der Winter-Session bereits an den SP-Fraktionspräsidenten Dario Robbiani gewandt.»

 

Helmut Hubacher erinnert sich, dass ihn Buser für Reimann zu gewinnen suchte. Der Bundeskanzler habe sich als ursprünglicher Anhänger der Kandidatur Uchtenhagen dargestellt, der jetzt von der Chancenlosigkeit dieser Kandidatur überzeugt sei: «Helmut, so begreif doch endlich…» Wichtiger freilich scheint dem SP-Chef, dass Buser darauf hingewiesen habe, seine Wiederwahl als Bundeskanzler wäre gefährdet, wenn er jetzt mit einer öffentlichen Verzichtserklärung die Bürgerlichen vor den Kopf stossen würde. Hubacher hat darauf erwidert: «Es gibt traurigere Schicksale, als als Bundeskanzler nicht wiedergewählt zu werden.» Das vielleicht eine Stunde dauernde Gespräch verläuft frostig, keiner traut dem andern über den Weg. Willi Ritschard hat dem SP-Präsidenten vor den Sommerferien 1983 gesagt: «Die Bürgerlichen wollen Buser. Wenn das passiert, können wir aus dem Bundesrat austreten.» Und Helmut Hubacher glaubt auch zu wissen, dass Buser bei den Bürgerlichen bereits im Wort steht.

 

Am Montag, 5. Dezember 1983, teilt Nationalrat Reimann den Bürgerlichen offiziell und schriftlich mit: «Liebe Ratskollegen, anlässlich unseres Gesprächs vom vergangenen Donnerstag habe ich von Euch erfahren, dass scheinbar breite Kreise aus den Fraktionen der FDP, CVP und SVP meine Person im Zusammenhang mit der Bundesrats-Ersatzwahl ins Gespräch gebracht haben. Ich habe Euch erklärt, dass ich von Anfang an - und seither immer wieder - unmissverständlich eine Kandidatur als Bundesrat abgelehnt habe und dass ich an diesem Entscheid festhalte.» Und: «Auch nachdem ich über das Wochenende Gelegenheit hatte, erneut darüber nachzudenken, hat sich daran nichts geändert. (…) Ich bin mir durchaus bewusst, was für die schweizerische Politik auf dem Spiel steht, glaube jedoch nicht daran, dass mit meiner Wahl die Probleme gelöst würden. Im Gegenteil, ich bin überzeugt davon, dass die Zustimmung zum Vorschlag der SP-Fraktion unserem Parlament gut anstehen würde.»

 

An diesem Montag wird auch ein bei der Universität Bern vom Büro des Nationalrates bestelltes zweites Gutachten zum «Bürgerrechtsfall Schmid» bekannt, das sinngemäss festhält: Wenn Hans Schmid nicht auf sein St. Galler Bürgerrecht vor der Wahl verzichtet, ist er nicht wählbar. Nicht nur Schmid-Anhänger haben den Eindruck, dass Nationalrat Schmid mit einem «Juristentrick» aus dem Verkehr gezogen worden ist. Gegen den St. Galler-Aargauer Schmid sollen in den Kulissen vorab mögliche künftige Bundesratskronprinzen bürgerlicher Parteien aus diesen beiden Kantonen aktiv geworden sein, damit ihnen eine Wahl in den Bundesrat nicht verbaut würde (damals war nur ein Bundesrat aus dem gleichen Kanton wählbar, der Verf.).

 

Aufgrund der Vorkommnisse in der ersten Woche der Dezember-Session beschliesst der Fraktionsvorstand der SP, die Gerüchte um den mutmasslichen Favoriten der Bürgerlichen, Bundeskanzler Walter Buser, abzuklären. Den bürgerlichen Fraktionen soll gleichzeitig klar gemacht werden, dass die SP Buser unter keinen Umständen akzeptieren könne; dabei gehe nicht darum, auf die Entscheidung der Bürgerlichen Druck auszuüben, vielmehr soll ihnen klar gemacht werden, dass die SP mit einer Wahl Busers in für alle Beteiligten unschöne Turbulenzen geraten würde.

 

Die bürgerlichen Gesprächspartner - FDP-Fraktionschef Jean-Jacques Cevey, SVP-Fraktionschef Hans-Rudolf Nebiker (zusammen mit SVP-Generalsekretär Max Friedli, SVP-Nationalrat Rudolf Reichling und SVP-Ständerat Peter Gerber) und CVP-Fraktionschef Arnold Koller - zeigen für diese Haltung der Sozialdemokraten Verständnis. Cevey wirft ein, dass die SP vor Jahresfrist die offiziellen Kandidaten von FDP und CVP ebenfalls nicht offiziell unterstützt habe. Und ein SVP-Vertreter gibt zu erkennen, dass die Qualifikation von Bundeskanzler Buser für den Bundesratsjob nicht über jeden Zweifel erhaben sei. SP-Fraktionsvize Walter Renschler über seinen Eindruck nach diesen Gesprächen: «Mindestens die Führung der anderen respektiert die SP-Kandidatin, wenngleich auch Bedenken gegen Lilian Uchtenhagen geäussert wurden. Aber man versprach uns, dass das Mögliche gemacht werde, um unseren Wahlvorschlag zu respektieren.»

 

Kaum wieder im Ratssaal, vernimmt Nationalrat und VPOD-Geschäftsführer Renschler, dass eine bürgerliche Delegation den Kollegen Fritz Reimann bearbeitet. Sofort geht er zum CVP-Fraktionschef Koller: «Was macht ihr da wieder für ein ‚Spieli’?» Koller versichert, dass Eng und Schärli nicht im Namen der Fraktion bei Reimann vorstellig geworden sind.

 

Gegen Ende der ersten Woche der Winter-Session verdichten sich neu Gerüchte, dass CVP-Bundesrat Kurt Furgler, Chef des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartementes, zugunsten von Walter Buser aktiv sei, um einen Vertrauten, nämlich Joseph Voyame, Direktor des Bundesamtes für Justiz, als Nachfolger Busers in den Bundeskanzlerjob hieven zu können. Da Furgler früher wiederholt bemerkt hatte, er sei für eine Kandidatur Uchtenhagen, will der SP-Präsident jetzt vom CVP-Bundesrat persönlich wissen: «Kurt, warst Du nur für Lilian, um Willi Ritschard weg zu empfehlen?» Als Hubacher aus Furglers Büro herauskommt, hat er trotz der Zusicherung Furglers - «Helmut, ich bin absolut dafür, dass ihr im Bundesrat bleibt» - kein klares Gefühl über Furglers tatsächliche Rolle.

 

Zu Beginn der zweiten Woche der Winter-Session, zwei Tage vor der Bundesratswahl, stellen die Sozialdemokraten fest, dass Walter Buser stärker denn je im Gespräch ist – besonders als auch noch Reinmanns definitiver Verzicht bekannt wird. Im SP-Fraktionsvorstand wird die bange Frage diskutiert: «Wie kann das Problem Buser umgangen werden?» Man beschliesst, Buser müsse Farbe bekennen. Denn Fraktionsvize Renschler ist inzwischen auch zu Ohren gekommen, dass der Bundeskanzler dem Treiben um seine Person keineswegs passiv gegenüberstehe, sondern vielmehr aktiv auf eine Wahl hinarbeite. Das Gerücht liegt in der Luft, dass Buser den Generalsekretär des Eidgenössischen Departementes des Innern, den SP-Mann Eduard Marthaler, als Bundeskanzler-Nachfolger montieren wolle, wenn er, Buser, in den Bundesrat gewählt würde. Renschler will’s genau wissen und ruft Marthaler an: «Hast Du etwas gehört von Deiner Kandidatur als Bundeskanzler?» Marthaler antwortet sinngemäss: «Ja, vor zwei Stunden hat Buser angerufen und gefragt, ob ich kandidieren würde. Doch ich habe dieses Ansinnen weit von mir gewiesen.»

 

Jetzt ist für die SP-Spitze endgültig klar: «Buser ist für sich selber aktiv!» Im Auftrag des Fraktionsvorstandes müssen Ständerat Carl Miville sowie die Nationalräte Renschler und Hubacher mit dem Bundeskanzler reden. Bei dieser Aussprache schweigt sich SP-Chef Hubacher aus und verlässt die Runde schon nach wenigen Minuten: «Ich habe nichts Neues gehört. Buser hat wiederholt, was er mir schon in Basel gesagt hat.» Trotz des Beschlusses, keinerlei Zwang auf Buser auszuüben, geht besonders der Basler Miville mit dem unsicheren Kantonisten Buser hart ins Gericht: «Walter, ich verstehe Dich nicht!» Und er erinnert Buser daran, welche Verantwortung er mit einer Wahlannahme auf sich nehmen würde: «Du wärst schuld, wenn wir den Bundeskanzlerposten verlieren würden, und Du trägst die Verantwortung, wenn sich die Partei spaltet!“» Walter Buser wirbt mit dem Hinweis auf schlaflose Nächte um Verständnis: «Es geht um meine Existenz.» Da fährt ihn Walter Renschler an: «Du musst nicht so tun, als ob…» Allein, Miville und Renschler kommen mit Buser auf keinen grünen Zweig. Zusammen gehen die beiden Parlamentarier mit dem Bundeskanzler anschliessend an die SP-Fraktionssitzung, die bereits angefangen hat. Dort fragt SP-Nationalrat Max Chopard quer über den langen Tisch an die Adresse Busers: «Jetzt wollen wir endlich wissen: Bist Du Kandidat oder bist Du nicht Kandidat?» Die Frage Chopards gilt keineswegs der Stärkung der Kandidatur Uchtenhagen; vielmehr sondiert Chopard, ein Anhänger von Stich, für seinen Otto. Chopard gehört zur sogenannten «Volkshüsler-Riege».

Bundeskanzler Buser stellt seine Position an dieser Fraktionssitzung so dar: «In all diesen Wochen - also schon vor der Winter-Session - habe ich alle, die mich ermunterten, immer wieder dringend ersucht, aus staatspolitischen Gründen die Kandidatur Uchtenhagen zu akzeptieren oder - soweit sich kategorisch Opposition geltend machte - darum gebeten, jedenfalls nicht meine Person ins Spiel zu bringen.»

 

Buser begründete seine Haltung nachträglich so: «Einerseits habe ich immer wieder betont, dass mir persönlich, da ich seit 20 Jahren aus gesundheitlichen Gründen und mit Rücksicht auf meine Neigung zu eher wissenschaftlicher Tätigkeit nicht mehr vorne an der politischen Front stehe, der Posten des Bundeskanzlers offen und ehrlich besser passe. Zweitens, habe ich aus der Erkenntnis der Situation bei der SP heraus immer wieder unterstrichen, dass eine Wahl meinerseits grösste Schwierigkeiten nach sich ziehen würde, da die SP nicht nur mit ihrer offiziellen Kandidatin unterläge, sondern gleichzeitig - und damit war bestimmt zu rechnen - auch der Posten des Bundeskanzlers verloren ginge. Diese Haltung kam auch in meinen Äusserungen inner- und ausserhalb der Fraktion zum Ausdruck, so namentlich in einer ersten Stellungnahme kurz nach der Herbst-Session, und zweitens im Fraktionscommuniquè am Dienstag der ersten Sessionswoche, worin erklärt wurde, die Fraktion habe von mir zur Kenntnis genommen, dass ich ausschliesslich für den Posten des Bundeskanzlers zur Verfügung stehe. Von einer formellen Erklärung des Inhalts, dass ich eine Wahl ablehnen würde, wurde mir von Freunden aus allen Lagern dringend abgeraten, da dies als Affront gegenüber der Bundesversammlung als höchster Wahlbehörde des Landes ausgelegt würde.»

 

Die Teilnehmer der SP-Fraktionssitzung beschliessen auf Vorschlag von Fraktionschef Robbiani, Buser soll mit Renschlers Hilfe eine Communiqué formulieren, aus dem hervorgehe, dass Buser für die Bundesratswahl passe. Walter Renschler besteht dabei auf der Formulierung «In völliger Übereinstimmung mit der Fraktion…», während Walter Buser seinerseits die Variante offeriert: «Aus persönlichen Gründen kann ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt…» Da wird Renschler sauer: «Was heisst ‚zum gegenwärtigen Zeitpunkt’? Gilt das morgen Mittwoch auch noch?» Die beiden Sozialdemokraten können sich nicht einigen. Jetzt gibt die Fraktion auf Vorschlag von Helmut Hubacher dem gepeinigten Buser zwei Stunden Zeit, sich «etwas Gescheites» einfallen zu lassen. Die Zeit drängt, denn auf 17 Uhr ist eine Pressekonferenz zum Thema Buser angesagt.

 

Die Fraktionssitzung wird fortgesetzt, während sich Buser an die Arbeit macht. Eine Viertelstunde später wird Walter Renschler hinausgerufen. Vor der Tür steht SVP-Generalsekretär Max Friedli und will wissen: «Stimmt es, dass Buser auf eine Annahme der Wahl verzichten muss?» Renschler reagiert gereizt: «Woher wisst ihr das jetzt schon wieder – Buser war ja noch bis kurz vorher hier drin?» Friedli erklärt ihm, dass Buser soeben ein Mitglied der SVP-Fraktion angerufen habe, um ihm den Verzicht mitzuteilen. Als Begründung habe er den Druck erwähnt, der auf ihn ausgeübt würde.

 

An der Pressekonferenz, etwas nach 17 Uhr, liegt der Buser-Text vor. Renschler verliesst den Text: «Ich möchte Ihnen hiermit zur Kenntnis bringen, dass ich unter den heute gegebenen Umständen eine allfällige Wahl in den Bundesrat nicht annehmen könnte». Prompt wird Renschler gefragt, ob der Verzicht morgen Mittwoch noch gelte. Wider seinen persönlichen Eindruck antwortet Renschler: «Das heisst heute und morgen.»

 

Kurz vor Beginn der Fraktionssitzung der FDP erkundigt sich ein FDPler bei Coop Schweiz-Vizedirektor Stich in Basel, ob er eine Wahl annehmen würde. Die Antwort fällt positiv aus. Die FDP-Fraktion, in der die Ablehnung der Kandidatur Uchtenhagen von Anfang an am massivsten ausgefallen ist, erörtert an diesem Dienstagnachmittag, dem 6. Dezember 1983, drei personelle Möglichkeiten: Buser, Stich oder ein Gewerkschafter. FDP-Nationalrat Felix Auer, der sich seinerzeit in seinen Reihen für die Wahl Busers zum Bundeskanzler stark gemacht hatte, warnt davor, die SP mit einer Wahl Busers zum Bundesrat und damit dem Verlust des Bundeskanzlerpostens vor den Kopf zu stossen. Er setzt sich für seinen Studienkollegen Otto Stich ein; sie beide kommen aus Arbeiterverhältnissen. Auer und die Kleinunternehmer-Tochter Lilian Uchtenhagen, ebenfalls eine Studienkollegin Auers und Stichs, sind sich nicht grün.

 

Als FDP-Fraktionschef Cevey gegen 17 Uhr die Sitzung aufheben will, kommt die Mitteilung herein, Walter Buser verzichte auf eine Wahl. Auer: «Die Fraktion war hell empört. Jedermann vermutete sofort, Hubacher habe Buser unter Druck gesetzt.» Gegen 18 Uhr wird die FDP-Fraktionssitzung unterbrochen – man will sich gegen 21 Uhr noch einmal treffen. In der Zwischenzeit soll bei den anderen bürgerlichen Parteien sondiert werden.

 

Gegen 19 Uhr verlässt Walter Renschler das Bundeshaus. Er ist mit Lilian Uchtenhagen in der «Münz» des Hotels «Bellevue» zum Nachtessen verabredet. Ebenfalls gegen 19 Uhr treffen sich im Büro von CVP-Fraktionschef Arnold Koller unter der Bundeskuppel Vertreter aller bürgerlichen Parteien. Die Teilnehmer einigen sich rasch. Der Bundesrat, der morgen Mittwoch gewählt wird, heisst Otto Stich. An der «Bellevue»-Bar prophezeit Ex-Bundesratskronprinz Hans Schmid dem Fernsehmann Marc-Roland Peter die Stich-Wahl mit 125 Stimmen.

 

Etwa zur gleichen Zeit tafelt das Gros der FDP-Fraktion im Hotel «Schweizerhof». Die angeregt die bevorstehende Stich-Wahl diskutierenden FDPler verstummen plötzlich: Unter der Tür ist SP-Ständerat René Meylan aufgetaucht. «Er versuchte», so später FDP-Pressechef Christian Beusch, «bei uns anzusaugen.» Bestimmt wird Meylan erklärt, dass er ein anderes Mal willkommener sei. Bei diesem FDP-Nachtessen kommt heraus: Offiziell wird niemand unterstützt, inoffiziell Stich. Belser, der Basellandschäftler SP-Ständerat, bei den Freisinnigen lange Zeit als Uchtenhagen-Alternative im Gespräch, findet keine grössere Resonanz mehr. Beusch: «Ausser Major ist er nichts.» Für Erheiterung sorgt an der freisinnigen Tafel die Mitteilung, dass CVP-Generalsekretär Hans-Peter Fagagnini, ein Uchtenhagen-Befürworter, in der Polizeikaserne am Berner Waisenhausplatz mit dem FC Nationalrat Fussball spielt – und so die Stich-Entwicklung wohl nicht mehr aufhalten könne. Tatsächlich haben verschiedene CVP-Parlamentarier und Uchtenhagen-Gegner wie CVP-Nationalrat Edgar Oehler dem viven Strategen und Parteifunktionär Fagagnini in der Zwischenzeit klar gemacht: «Das Wahlgremium hier sind wir!»

 

Als sich die Freisinnigen gegen 21 Uhr wieder treffen, geht’s ruckzuck: Nach einer Viertelstunde ist die Sitzung beendet und alle angehalten, in den Berner Etablissements Kollegen und Kolleginnen zu ermuntern, am Mittwoch den Namen von Otto Stich auf den Wahlzettel zu schreiben. Nach dieser Sitzung ruft Felix Auer seinen Studienkollegen Stich an: «Otti, Du wirst sicher gewählt!» Er gibt Stich den Rat, sofort das Telefon auszuziehen, damit sich nicht noch eine SP-Delegation anmelden könne…

 

In der «Münz» haben Lilian Uchtenhagen und Walter Renschler inzwischen etwas Leichtes, vermutlich Kalbsschnitzel, verdrückt. Während an der Theke der «Bellevue»-Bar im gleichen Hotel der Name Stich zirkuliert, fragt in der «Münz» Frau Uchtenhagen: «Was meinst Du, Walter, wie sind meine Wahlchancen?» Renschler, der von der Stich-Entwicklung nichts ahnt, antwortet im Brustton der Überzeugung: «Die Sache ist geritzt. Die können jetzt nicht mehr umorganisieren – der Hauptkandidat ist aus dem Rennen.»

 

FDP-Parlamentarier und –Funktionäre treffen sich nach der abendlichen Fraktionssitzung im Restaurant «Della Casa». Es wird emsig gerechnet. Bald ist den FDPlern hier klar: «Es reicht, aber ganz knapp.» Als unsichere Kantonisten werden einige welsche Parteifreunde eingestuft. Tatsächlich sollte Lilian Uchtenhagen 12 Stimmen mehr erhalten, als die FDPler voraussehen.

 

An der «Arcady»-Bar des Hotels «Schweizerhof» bechern etwa ab 22 Uhr Parlamentarier aller bürgerlichen Fraktionen, mehrheitlich aber CVPler. CVP-Nationalrat Edgar Oehler, Chefredaktor der «Ostschweiz», beschreibt unter dem Pseudonym «Hansjakob Wahlfieber» am 8. Dezember 1983 in seiner Zeitung, wie sich die Dinge entwickelt haben: «Überparteilich kamen honorige Kreise im Bundeshaus in einem bestimmten Raum zusammen und vereinbarten ein überparteiliches Zusammensitzen auf 23 Uhr. Es war immer noch Dienstagabend. Wie ein Lauffeuer gingen die parteipolitischen Telegrafen und Meldeläufer durch Berns Gassen, suchten die einschlägigen Restaurants auf und meldeten die neueste Entwicklung. Die Quittung war überall die gleiche, welche die Meldeläufer in die Zentrale zurückbrachten: ‚Jetzt reicht es uns endgültig’, habe man vom Heiri beim Nachtessen, vom Hans beim Dessert, vom Ueli beim Zeitungslesen und vom Paul auf dem Spaziergang vernommen. An der inoffiziellen Zusammenkunft der Vertreter aller Parteien fühlte man nicht nur, wie die besonnenen Typen der SP über den Ausgang des neuesten Schlagabtauschs fieberten, sondern auch den allgemeinen Drang, dem bösen Spiel endgültig eine Ende zu bereiten.

 

Das Buschtelefon klingelte unentwegt weiter. Bald einmal hatte man die grosse Mehrheit des Parlamentes erreicht und informiert. Druck wurde auf niemanden ausgeübt, das war angesichts der vergangenen Tage und der Entwicklung verpönt. Mittlerweile war Mitternacht vorbei. Das Sandmännchen hielt Einzug. So konnte man sich geruhsam zu Bette legen, um beim Frühstück nochmals über die Bücher zu gehen. (…) Die Meldungen, die beim Frühstück hereinkamen, stimmten optimistisch; Querkontrollen ergaben, dass das Informationsnetz durch das abendliche und nächtliche Bern funktioniert hatte. Das alles verdaut, das Dreiminuten-Ei, Gipfeli und ein Stück Zopf verspiesen, konnte man sich gemeinsam auf den Weg ins Bundeshaus machen. Man wollte zur Zeit eintreffen, denn die Lage war ernst, weshalb es eine bestimmte Angewöhnungsphase brauchte.» Soweit Hansjakob Wahlfieber alias Edgar Oehler.

 

Auf dem Herren-WC des Bundeshauses werden noch zwei Parlamentarier erwischt, die dem Treiben des Vorabends doch tatsächlich entgangen sind. Einer will leer einlegen, einer Uchtenhagen wählen. Im Gespräch während des Wasserlösens können die beiden Parlamentarier von ihrer Absicht abgehalten werden – sie versprechen, Otto Stich zu wählen. Damit keine bösen Überraschungen vorkommen, zeigen sich die Uchtenhagen-Gegner vom «Arcady»-Coup gegenseitig ihre Wahlzettel.

 

Otto Stich wird im ersten Wahlgang mit 124 Stimmen zum Bundesrat gekürt, Lilian Uchtenhagen bringt es auf 96 Stimmen. Kurz vor 11 Uhr bricht an der Thiersteineralle in Basel bei Coop Schweiz Jubel aus: «Unser Chef ist Bundesrat!» («Coop-Zeitung». Mit Blaulicht wird Stich zur Vereidigung ins Berner Bundeshaus gefahren, «eskortiert» von Coop Schweiz-Prominenz: Direktor Hans Thuli ist dabei, ebenfalls Edith Rüefli, die Otto Stich bei Coop Schweiz Tage vorher als Direktorin vorgezogen worden ist, dann auch der stellvertretende Direktor Peter Fitz. In Bern stossen sie zusätzlich auf Robert Kohler, Direktionspräsident von Coop Schweiz.

 

Im Nationalratssaal erklärt Otto Stich: «Ich bin der Meinung, die Zeit sei reif für eine Frau im Bundesrat. Aber da Sie mich gewählt haben, nehme ich die Wahl an.» FDP-Präsident Yann Richter sagt in einem ersten Wahlkommentar: «Man wird jetzt wissen, wer in der Schweiz befiehlt.» Erzürnt droht SP-Chef Helmut Hubacher mit dem Gang in die Opposition. Doch daraus wird nichts. Ein ausserordentlicher Parteitag verwirft das Ansinnen. Die SP bleibt Regierungspartei und der zunächst verschmähte Otto Stich löst als Finanzminister in den eigenen Reihen rasch deutlich mehr Begeisterung aus, als bei jenen, die ihn in den Bundesrat gewählt haben…

 

(Quelle: «Heil Dir Helvetia. Die Freude an der Macht», Herausgegeben von Christian Fehr, Edition Gutenberg, 1984)