Demografie: Wie sich die Welt entwickelt

 

Seit in den Wohlfahrtsstaaten die Stichworte Überalterung und Zuwanderung diffuse Ängste und Abwehrreflexe freilegen, ist die Bevölkerungswissenschaft in die erste Reihe der wissenschaftlichen Disziplinen aufgerückt. Besonders

 gefragt ist Herwig Birg, der mit seinen Büchern – u.a. «Die verlorene Generation: Was die Demografie über unsere Zukunft sagt» - prognostiziert, wo’s langgehen könnte.

Christian Fehr

 

 Von Christian Fehr, Text & Auftritt

 Birg, emeritierter Professor für Bevölkerungswissenschaft und langjähriger Leiter des Instituts für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik der Universität Bielefeld, gilt als einer der weltweit führenden Wissenschafter in Sachenen Bevölkerungsentwicklung

 

1798 war für den englischen Pfarrer Thomas Robert Malthus mit damals knapp einer

Milliarde Erdenbewohnern das Mass voll. In seinem Hauptwerk «The Principle of Population» («Das Bevölkerungsgesetz») begründete er, wie der Vermehrung der Menschen zu begegnen ist: «Die Not als das übermächtige, alles

durchdringende Naturgesetz hält die Pflanzen- und Tierarten innerhalb der vorgegebenen Schranken zurück. Sie schrumpfen unter diesem grossen, einschränkenden Gesetz zusammen. Auch das Menschengeschlecht vermag ihm durch keinerlei Bestrebungen der Vernunft zu entkommen.» Erfolgreich setzte sich Malthus, ab 1805 Professor für Geschichte und politische Ökonomie, in England dafür ein, das staatliche Unterstützungssystem für die Armen abzuschaffen, weil damit die Armen nur zahlreicher würden und so das Übel, das Existenz bedrohende Bevölkerungswachstum, noch vergrössert statt beseitigt würde.

 

Bevölkerungswachstum – Bevölkerungsschrumpfung

In der modernen Demografie ist Malthus' biologischer Ansatz ebenso wie die Biologie als Leitwissenschaft der Bevölkerungstheorie durch eine historisch-soziologische Betrachtungsweise abgelöst und «Das Bevölkerungsgesetz» gleichsam auf den Kopf gestellt worden. Die heutige Bevölkerungsökonomie begründete u. a. der deutsche Nationalökonom Lujo Brentano 1909 aufgrund der ersten Volkszählungen in Europa im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts: «Mit zunehmendem Wohlstand und zunehmender Kultur wächst die Mannigfaltigkeit der Bedürfnisse der Menschen… (…) Der Mensch bricht mit der Kindererzeugung

da ab, wo die Mehrung der Kinderzahl ihm geringere Befriedigung schafft, als

andere Genüsse des Lebens, die ihm sonst unzugänglich würden…» Aus diesem Grunde führt der weltweit wachsende Wohlstand nach Brentano zu einer Abnahme der globalen Geburtenrate und zu einer Verlangsamung des Weltbevölkerungswachstums, bis das Wachstum ganz zum Stillstand kommt.

 

Kurz: Heute gilt als gesicherte Erkenntnis, dass das Pro-Kopf-Einkommen der Schlüssel zum Rezept ist, wie dem Problem des Wachstums der Weltbevölkerung erfolgreich begegnet werden kann. Dies ist aber nur die eine Seite der Medaille.

 

Herwig Birg unterscheidet zwei Klassen von demografisch bedingten Problemen.

Die Klasse der wachstumsbedingten Probleme betrifft die Entwicklungsländer. Die Klasse der Industrieländer – mit Ausnahme der USA – hat es mit dem Problem der Bevölkerungsschrumpfung zu tun. Verknüpft sind diese beiden Teilwelten durch internationale Wanderungsströme. Im Gegensatz zum Bevölkerungswachstum

in den Entwicklungsländern ist die Bevölkerungsschrumpfung in den Industrieländern bis vor wenigen Jahren nicht zu den Weltbevölkerungsproblemen

gezählt worden. Birg: «Es ist aber hohe Zeit, zu erkennen, dass sich die Welt aus demographisch wachsenden und demographisch schrumpfenden Populationen mit ganz unterschiedlichen demographisch verursachten Folgeproblemen zusammensetzt. Dabei geht ein bestimmtes Problem mit grosser Folgerichtigkeit

aus einem anderen hervor, so dass man von einer demografisch verursachten Problemkette sprechen kann.»

 

Das Beispiel Deutschlands

 

Gesetzt den hypothetischen Fall, dass sich z.B. in Deutschland der politische Wille entwickelt, das Geburtendefizit durch Einwanderungen auszugleichen, um die wirtschaftlichen Nachteile der Bevölkerungsschrumpfung zu vermeiden, müssten bei gleich bleibender Geburtenrate (1,4 Lebensgeborene pro Frau) ständig jährlich ebenso viele Menschen zuziehen wie unter den einmaligen Ausnahmebedingungen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks: Mehr als eine Million pro Jahr (wie als Folge ausserordentlicher Umstände 2015). Das sind beträchtlich mehr als die jährliche Geburtenzahl in Deutschland. Der Wanderungssaldo (= Differenz zwischen der jährlichen Zahl der Zugezogenen und Fortgezogenen) müsste bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts auf 500 000 bis 600 000 pro Jahr wachsen. Die einheimische Bevölkerung wäre dann nicht nur in den grossen Städten bald in der Minderheit (dort wird dies in den grossen Städten bei den unter 40jährigen ohnehin auch bei nur moderaten Zuwanderungen schon bald der Fall sein), sondern sogar im Durchschnitt des gesamten Landes.

 

 

«Das Sinken der Geburtenrat ist nicht, wie Malthus behauptet hatte, die entscheidende Voraussetzung, um anschliessend durch politische und ökonomische Reformen eine Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen herbeiführen zu können, vielmehr bewirkt die Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiter automatisch einen Rückgang und nicht einen Anstieg der Geburtenrate.»

 

 

Die entscheidende Eigenschaft demografischer Phänomene ist ihr Prozesscharakter, nicht ihr statisches Zustandsbild, lehrt uns Birg. Wie Umweltprozesse bewirken auch Bevölkerungsprozesse Änderungen, die

wegen ihrer Langsamkeit die Wahrnehmungsschwelle des Problembewusstseins unterlaufen und zur Gewöhnung an Zustände führen, die von uns im Fall der

Früherkennung kaum toleriert würden: «Dass es ein demografisches Momentum mit irreversiblen Folgen gibt, ist vielleicht die wichtigste Erkenntnis der Demografie. Wenn ein demographischer Prozess ein Vierteljahrhundert in die falsche Richtung läuft, dauert es ein Dreivierteljahrhundert, um ihn zu stoppen.»

 

Die Entwicklung der Weltbevölkerung

 

Doch wenden wir uns jetzt der konkret belegten Entwicklung der Weltbevölkerung zu. Sie brauchte 18 Jahrhunderte, um von Christi-Geburt bis zum Jahr 1804/05 von rund 300 Millionen auf die erste Milliarde zu wachsen. Für die zweite Milliarde, die im Jahre 1926/27 erreicht wurde, genügten 123 Jahre. Für die dritte Milliarde wurden nur noch 33 Jahre (1960), für die vierte 14 Jahre (1970) und für die fünfte (1987) und sechste Milliarde (1999) lediglich 13 bzw. 12 Jahre benötigt. Heute bevölkern rund 6,5 Milliarden Menschen den Planeten Erde.

 

Berechnungsmethode

Die Bevölkerungsveränderung berechnet sich aus den beiden bevölkerungsvermehrenden Komponenten, den Geburten und den Zuwanderungen, und den beiden bevölkerungsverringernden Komponenten, den Todesfälle und den Abwanderungen. Je kleiner das betrachtete Gebiet ist, desto grösser ist das Übergewicht der Zu- und Abwanderungen. Die Änderung der Geburtenrate um einen bestimmten Prozentsatz wirkt sich um ein Vielfaches stärker auf das Wachstum der Weltbevölkerung aus als eine gleich grosse prozentuale Änderung der Lebenserwartung.

 

Vor 150 Jahren hatten Europa und Nordamerika die weltweit grössten Wachstumsraten, die niedrigsten die heutigen Entwicklungsländer. Heute verhält es sich genau umgekehrt, wobei das Niveau der Wachstumsraten

gestiegen ist: Der bisher höchste Wert wurde Ende der 1960er Jahre mit 2% erreicht. Seither sinkt die Wachstumsrate, beträgt aber zu Beginn dieses Jahrhunderts immer noch 1,2%. Immerhin: Tendenz sinkend. Bliebe sie auf dem heutigen Niveau konstant, würde sich die Weltbevölkerung in etwas mehr als 100 Jahren

auf 25,6 Milliarden vervierfachen. In den letzten fünf Jahren nahm die Weltbevölkerung «nur» noch um rund 70 bis 80 Millionen Menschen pro Jahr zu. Setzt sich der weltweite Rückgang der Geburtenratenraten, wie von den Vereinten Nationen prognostiziert (siehe Box «Berechnungsmethode») fort, könnte der den Bestand erhaltende Wert – auf der Basis von durchschnittlich 2,1 bis 2,2 Lebendgeborenen pro Frau weltweit – bereits in drei bis vier Jahrzehnten, also etwa um das Jahr 2040, erreicht und danach sogar unterschritten werden.

 

 

 

«Eines der wichtigsten Folgeprobleme des hohen Bevölkerungswachstums ist die Massenarbeitslosigkeit der jungen Generationen, die ihre Eltern ökonomisch nicht nur nicht unterstützen können, sondern ihnen sogar noch zur Last fallen.»

 

 

 

Die Theorie der Transformation

 

Hoffnung verheisst die «Theorie der Transformation», die etappenweise im 19. und 20. Jahrhundert entwickelt worden ist und die tatsächliche Entwicklung seit dem 18. Jahrhundert abbildet. Seit den 1980er-Jahren unterteilt sie den demografischen Übergang vom Wachstum zur Schrumpfung der Weltbevölkerung in sechs Phasen:

 

• Phase eins: Sowohl die Geburtenrate als auch die Sterberate sind relativ hoch, die Wachstumsrate als Differenz zwischen beiden ist jedoch relativ niedrig, sie liegt zwischen Null und einem Prozent.

 

• Phase zwei: Die Sterberate beginnt zu sinken (je nach Land beginnt dieser Prozess ab der Mitte des 19. Jahrhunderts), während die Geburtenrate noch unverändert hoch bleibt, so dass die Wachstumsrate zunimmt.

 

• Phase drei: Die Sterberate sinkt auf sehr niedrige Werte, die Geburtenrate ist immer noch hoch und die Wachstumsrate erreicht ihr Maximum. Afrika befindet sich heute in dieser Phase des demografischen Übergangs, in der die Wachstumsraten am höchsten sind.

 

• Phase vier: Auch die Geburtenrate beginnt zu sinken und die Wachstumsrate nimmt wieder ab. Südamerika und Asien (mit Ausnahme Japans und der Schwellenländer Südostasiens) befinden sich heute in dieser Phase mit abnehmenden Wachstumsraten.

 

• Phase fünf: Die Geburtenrate sinkt weiter, die Wachstumsrate wird sehr klein, die Bevölkerung wächst nur noch langsam oder stagniert – wie heute in Westeuropa, wenn die Einwanderungen mitberücksichtigt werden.

 

• Phase sechs: Die Geburtenrate ist kleiner als die Sterberate, die Wachstumsrate negativ und das betreffende Land tritt in die Phase der Bevölkerungsschrumpfung ein. In dieser Phase befinden sich die Länder Süd- und Osteuropas (Bevölkerungsschrumpfung ohne Einwanderungen). Bezogen auf die einheimische Bevölkerung befinden sich die meisten Länder Westeuropas ebenfalls wie jene Süd- und Osteuropas sowie Japans in der Phase sechs, was heisst: Wird das Geburtendefizit nicht durch Einwanderungen ausgeglichen, schrumpft die Bevölkerung permanent. Dabei erhöht sich gleichzeitig das Durchschnittsalter der Bevölkerung.

 

 

«Eine Politik, die das Ziel verfolgt, die demographische Entwicklung unter ihre Kontrolle zu bringen und ihre Auswirkungen in der Zukunft zu gestalten, ist realistisch betrachtet nicht viel mehr als eine Art von Vergangenheitsbewältigung.»

 

 

Die Erkenntnisse der Transformationstheorie auf der Basis der historischen europäischen Entwicklung hat aber ihre Tücken, wie Birg erklärt: «Es muss sich erst noch erweisen, ob in Afrika die (…) wichtigen kulturellen Traditionen, die durch (…) religiöse Glaubensvorstellungen geprägt sind, die verhaltensändernden Effekte der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung nicht vielleicht stärker kompensieren als dies in anderen Kulturräumen der Fall war.» Und selbst wenn sich diese Zweifel als unbegründet herausstellen, gilt es nach Meinung Birgs einen wichtigen Unterschied nicht ausser Acht zu lassen: den Faktor Zeit. Die europäischen Industrieländer brauchten wesentlich mehr Zeit, um die Transformation von der vorindustriellen zur industriellen Phase zu vollziehen, als den Entwicklungsländern heute zur Verfügung steht.

 

Vergleicht man den historischen Verlauf der Geburten- und Sterberate in Westeuropa mit den heutigen Entwicklungsländern, zeigt sich nach Birg folgender Sachverhalt:

 

1. Die Geburtenrate der heutigen Entwicklungsländer ist beträchtlich höher als die Geburtenrate der Industrieländer im Verlauf ihrer Entwicklung jemals war.

 

2. Die Sterberate der heutigen Entwicklungsländer ist trotz schlechter Gesundheits- und Lebensbedingungen wegen der ausserordentlich jungen Altersstruktur und wegen der Fortschritte der Medizin bei der Seuchenbekämpfung niedriger als die Sterberate in den Industrieländern vor ein- oder zweihundert Jahren war.

 

Vorausberechnungen: Wenn, dann…

 

Nach Lage der Dinge scheint zumindest das Problem des Wachstums der Weltbevölkerung in den nächsten Jahrzehnten lösbar. Nur: Wie verlässlich sind denn diese Vorausberechnungen? Birg stellt zwar fest, dass die 200jährige Geschichte der Demographie belege, dass ihre Vorausberechnungen zumindest genauer sind als Wirtschaftsprognosen. So sei die Politik in Deutschland bereits in den 1970er-Jahren über die drohende Schrumpfungsproblematik, die sich inzwischen eingestellt hat, orientiert worden – ohne dass bis heute auch nur ein politischer Lösungsansatz sichtbar geworden wäre. Aber er schränkt die Verlässlichkeit der Vorausberechnungen auch ein. Entscheidend sei, ob die wichtigsten Wechselwirkungen (aus einer Vielzahl von Einzelbeziehungen) der vier Systeme

Bevölkerung, Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt richtig erkannt und zu einem Gesamtsystem verbunden würden.

 

 

«Die Entwicklungsländer leiden unter wachstumsbedingten Bevölkerungsproblemen, die Industrieländer unter völlig andersartigen, schrumpfungsbedingten. Die unterschiedlichen Probleme heben sich nicht

gegenseitig auf, ebenso wenig wie sich ein angenehmes Gefühl einstellt, wenn man den linken Fuss in eiskaltes und den rechten in kochend heisses stellt.»

 

 

Birg verweist darauf, dass viele mit dem Bevölkerungswachstum zusammenhängende Grössen einen ständigen Fortschritt anzeigen. Aber er erwähnt auch, dass sich andere Indikatoren verschlechtern, z. B. die Umweltindikatoren «Ausdünnung der schützenden Ozonschicht», «Zunahme der Treibhausgase», «Vernichtung der Tropenwälder» etc. Wenn Ressourcen knapper werden, steigen ihre Preise. Bevor aber die knapper gewordenen Ressourcen durch andere Stoffe ersetzt werden können, haben die Preise eine Höhe erreicht, dass sie für die armen Länder unerschwinglich werden. Die Ressourcenfrage ist somit mit der Gerechtigkeitsfrage untrennbar verbunden, wobei es hier, anders als bei der Nahrung, nicht um ein Verteilungsproblem geht. Kurz, das Bevölkerungswachstum führt tendenziell zu grösserer Knappheit und damit zu weniger Gerechtigkeit auf dieser Welt.

 

Welcher Art die Probleme sind, die auf uns warten, erklärt das Beispiel des CO2-Ausstosses. Damit die Entwicklungsländer die günstige Prognose erfüllen und das Pro-Kopf-Einkommen steigt, müssen sie die Industrialisierung ankurbeln. Damit steigt ihr CO2-Ausstoss. Nach dem Gerechtigkeitsprinzip müssten den Entwicklungsländern die gleichen Pro-Kopf- Emissionen an CO2 zugestanden werden wie den Industrieländern. Stellt man gleichzeitig die Forderung auf, dass die CO2-Emissionen weltweit zumindest nicht weiter zunehmen dürfen, dann lassen sich beide Forderungen nur erfüllen, wenn sich z. B. die Pro-Kopf- Emissionen der Entwicklungsländer verdoppeln und die der Industrieländer um 85 % reduziert

werden. Was jetzt? Birg: «Bereits jetzt ist absehbar, dass beide Ziele nicht erreicht werden können – eine Verdoppelung der CO2-Emissionen reicht nicht aus, um das nötige Wirtschaftswachstum zu ermöglichen. Damit werden auch die Geburtenzahlen nicht in die erhofften Bahnen gelenkt werden können.»

 

Die biographische Theorie der Fertilität

 

Wenden wir uns zum Schluss den aktuellen Problemen vor der eigenen Haustür zu: dem Schrumpfungsprozess der einheimischen Bevölkerung. Einer, wenn nicht der wichtigste Begleitprozess des demographischen Wandels betrifft in unseren Breitengraden die Arbeitsteilung und berufliche Spezialisierung. Sie führt, immer nach Birg, zu einer explosionsartigen Erweiterung des Spektrums beruflicher Werdegänge, wodurch sich auch das Spektrum biographischer Entwicklungsmöglichkeiten verbreitert – mit nachhaltiger Wirkung auf das Fortpflanzungsverhalten.

 

 

«Ist es möglicherweise pure Klugheit, wenn nicht sogar Weisheit, dass die Politik das Thema Demografie jahrzehntelang unter ihrem dröhnenden Schweigen begrub, als wollte sie damit verhindern, dass es sich wie eine ansteckende Krankheit ausbreitet?»

 

 

In seiner «Biographischen Theorie der Fertilität» hat Birg 1991 und 1992 dazu ökonomische, soziologische und entwicklungspsychologische Erklärungsansätze zu einer Theorie vereinigt. Sie erklärt nicht nur die Entwicklung hin zu einem extrem niedrigen Geburtenniveau in den westlichen Industrieländern, sondern auch das erstaunlich niedrige und weiter abnehmende Geburtenniveau in bestimmten Ländern und Regionen Lateinamerikas und Asiens.

 

Die Kernthese ist, dass das Risiko unwiderruflicher langfristiger Festlegungen im Lebenslauf unter den Bedingungen eines ständigen Wandels der ökonomischen, sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebensbedingungen zugenommen hat und weiter zunehmen muss. Die Menschen vermeiden langfristige Festlegungen, um die biographische Entscheidungsfreiheit nicht zu verlieren. Folge: Die Familienplanung, so eine überhaupt noch stattfindet, hat sich verändert. Langfristige Festlegungen im Lebenslauf wie die Bindung an einen Partner und die Geburt eines Kindes werden in eine spätere Lebenslaufphase aufgeschoben oder ganz vermieden. Dies mit dem Ziel, berufliche Optionen offen zu halten und die Anpassungsfähigkeit an die Anforderungen der Arbeitsmärkte durch eine möglichst hohe Mobilitätsfähigkeit zu bewahren. Eine hohe Mobilität und Flexibilität wird auch von der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik propagiert und von jedem einzelnen gefordert, um damit die Arbeitsmärkte funktionsfähig zu halten, die Arbeitslosigkeit zu minimieren und die für ein möglichst hohes Pro-Kopf-Einkommen notwendige Produktivität zu maximieren.

 

Soll der Schrumpfungsprozess aufgehalten statt durch Einwanderung kompensiert werden, müssten aus unseren Biographien wieder «Lebensläufe statt Hindernisläufe» (Birg) werden: «Was nötig wäre, ist ein vollständiger, innovativer Umbau der gesamten Gesellschaft.» Allein, schänkt Birg ein, alle drei Hauptprozesse der demographischen Entwicklung – die Fertilität, die Mortalität und die Migration – sind erfahrungsgemäss ausserordentlich schwer politisch zu steuern oder auch nur zu kontrollieren. Bleibt die Hoffnung auf die unsichtbare Hand, die alles zum Guten wendet: Birg: «Sämtliche Gesellschaften, Staaten und Kulturen der Geschichte, einschliesslich ihrer je eigenen sozialen, politischen und kulturellen Probleme, also auch einschliesslich ihrer wie auch immer bedingten ‹Bevölkerungsprobleme›, waren stets von begrenzter Dauer, und dies dürfte auch für allen künftigen Gesellschaften gelten.»